Zu zweit haben Tashi und Dinesh das ganze Fussballturnier vorbereitet. Die beiden 15-Jährigen haben die Tore gebaut, andere Schulen eingeladen, den Turnierplan erstellt und die Preise und den Pokal organisiert. Das Turnier hat während den Herbstferien im November stattgefunden und ist ein Fest fürs ganze Sertshang Orphanage Home geworden. Zwei der entscheidenden Tore hat Som geschossen. Der Elfjährige strahlt. Er ist noch nicht lang im Kinderheim, zusammen mit seinem Bruder Kumar war er eingetreten, und die ersten Tage habe er nur geweint, sagt Methok, die Heimleiterin. Die beiden Brüder haben beim Erdbeben im Frühling ihre Eltern verloren – wie sechs weitere Kinder, die neu im Heim sind. Sie sind zwischen 4 und 14 Jahre alt, und die meisten stammen aus den Bergen, wo die Folgen des Bebens am verheerendsten waren. Viel ist neu für sie. Englisch zum Beispiel, das in Kathmandus Schulen schon im Kindergarten auf dem Stundenplan steht. Sie haben sich gut eingelebt in der Serthsang-Orphanage-Familie, die andern Kinder kümmern sich rührend um sie. Doch wie ihnen wirklich zumute ist, lässt sich nur schwer abschätzen. Professionelle psychologische Betreuung gibts in Nepal praktisch keine. Ein Arzt, der unmittelbar nach dem Beben auf dem Land im Einsatz war, hat mir erzählt, er sei so vielen traumatisierten Kindern begegnet, die zum Teil nicht mehr gesprochen haben. Dass er ihnen nicht helfen konnte, habe ihn am meisten belastet.

Im Waisenheim – sieben Monate nach dem Erdbeben

Im Waisenheim sind auf den ersten Blick kaum mehr die Folgen des Erdbebens zu sehen. Die Schäden am Mädchenhaus sind behoben, die Wasserversorgung funktioniert wieder einwandfrei, nur der grosse braune Fleck im Garten erinnert daran, dass die Kinder einen ganzen Monat im Freien unter einer Zeltplane gelebt haben. Hört man sie lachen und sieht ihnen beim Spielen zu, hat man auch den Eindruck, dass sie den Schock des Erdbebens bewältigt haben. Doch ist man länger mit ihnen zusammen, verraten einige, dass sie noch immer Angst haben und jede Nacht vom Beben träumen. Wie tief der Schock sitzt, habe ich erlebt, als es im November kurz gerüttelt hat (Stärke 5,3). Die Kinder sind wieder so erschrocken.

Nachwirkungen

So friedlich die Stimmung im Heim – so schwierig ist die wirtschaftliche Situation Nepals. Nicht nur wegen den Folgen des Erdbebens, denen die aktuelle Regierung ziemlich hilflos gegenüber steht. Eine schwere Krise lähmt seit September 2015 das ganze Land: Es gibt kaum mehr Treibstoff und Gas. Schuld ist ein ziemlich undurchsichtiger politischer Konflikt, ausgelöst durch die neue Verfassung, mit der die Volksstämme im Süden Nepals nicht einverstanden sind. Sie werden von Indien, dem Hauptenergielieferanten Nepals, indirekt unterstützt. Der grosse Nachbar hat unter einem fadenscheinigen Vorwand die Lieferungen eingestellt. Ihm passt die neue Regierung nicht, und die Krise schwächt von Tag zu Tag deren Position. Auf dem Schwarzmarkt explodieren die Preise, ein Liter Benzin kostet fünf Franken, die Gasflasche das Fünffache vom üblichen Preis. Immer mehr Leute kochen mit Holz, was dazu führt, dass wild gerodet wird. Die Lebensmittel werden rarer und teurer, und immer mehr Spitälern gehen die Medikamente aus. Die Krise erschwert und verteuert nicht nur massiv den Alltag, sie führt auch dazu, dass der Wiederaufbau nach dem Erdbeben nur langsam anläuft. Zwar hat die Regierung endlich eine Abteilung für den Wiederaufbau geschaffen, die den Einsatz der internationalen Hilfsgelder kontrollieren soll, doch kommen die Arbeiten nur schleppend voran.


Diese ziemlich aussichtslose Lage sorgt dafür, dass vor dem Passbüro die Schlangen immer länger werden. Es sind vor allem die Jungen, die weg wollen. Der Gleichmut, mit dem die Widrigkeiten hingenommen werden, erstaunt. Doch Nepals Bevölkerung hat schon so viel aushalten müssen, und wo der Alltag so beschwerlich ist, bleibt nur wenig Kraft für Proteste. Die Energiekrise beeinträchtigt auch den Unterricht, weil kein Benzin mehr für Schulbusse vorhanden ist und immer wieder landesweite Streiks ausgerufen werden. Wegen des Erdbebens haben die Kinder 2015 bereits einen ganzen Monat Unterricht verloren. Die schulfreien Tage lösen im Waisenheim keine Begeisterung mehr aus. Sie sind für die Kinder vielmehr zum Indiz geworden, dass die Probleme nicht gelöst werden und sich nichts ändert. Die kleinen Buben spielen dann Fussball, die Jugendlichen nehmen meist ihre Schulbücher hervor und lernen zusammen in kleinen Gruppen. Dass eine gute Ausbildung ihre Chancen für die Zukunft verbessert, haben sie längst kapiert. Und manchmal träumen sie laut davon, wie sie Nepal regieren würden, wenn sie an der Macht wären.

bnb, Kathmandu, Dezember 2015

Die politische Krise in Nepal

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Erdbeben im April und dem Nachbeben im Mai